Im moralischen Abgrund versunken

Gestern wurde im Ersten der TV-Krimi “Im Abgrund” erstmals gesendet – ein spannender Film mit leider sehr fragwürdiger Botschaft zur Hauptsendezeit: Recht und Gesetz sind letztlich zweitrangig, es zählt, das moralisch “Richtige” zu tun, in diesem Fall von der Folter Gebrauch zu machen, um einen entführten Jungen zu retten. Eine Tendenz, die sich gesellschaftsweit seit einigen Jahren ausgebreitet hat, sei es in der Flüchtlingsfrage oder der Klimafrage oder der Pandemiefrage: immer wird ein vermeintlich moralisch höherstehendes Gut gegenüber geltendem Recht, auch Grundrecht, höher bewertet. Sobald “Menschenleben” gefährdet sein könnten, darf man offenbar jedes andere Recht außer Kraft setzen.

Die Story: ein Kindstöter (Urteil der hier als unzulänglich dargestellten Justiz: “nur” 15 Jahre wegen Totschlags) kommt nach Verbüßung seiner Haft aus dem Gefängnis. Ein übereifriger Kommissar, der mit ihm noch eine Rechnung offen hat – er vermutet eine weitere Kindstötung durch den Täter – leitet die nun einsetzende Überwachung und will ihn “auf frischer Tat” ertappen. Tatsächlich verschwindet schon zwei Tage nach seiner Entlassung ein weiteres Kind. Im Überwachungsteam kommt es zum Streit: eine sehr zur polizeilichen Selbstjustiz neigende Kollegin will den entlassenen Straftäter regelrecht foltern, um “das Leben des Kindes zu retten”, ein insgesamt blaß wirkender zweiter Kommissar verweist strikt auf die Notwendigkeit der Gesetzestreue. Mittlerweile wird der Zuschauer recht unmotiviert und plump auf eine falsche Fährte gelockt, der zunächst auch der gesetzestreue Polizist folgt. Unterdessen beschließen der Überwachungsleiter und die Kollegin, den Täter zu entführen und zu foltern, immerhin ist das Leben des Kindes in höchster Gefahr. Diese Folter bleibt ergebnislos, jedoch nicht unentdeckt, sodass die Folternden ihre Stellung in der Polizei verlieren und die Überwachung des Kindstöters aufgehoben wird. Prompt tritt dieser als neuer Täter in Aktion. Er setzt zunächst seinen Wirt, einen als allzu gutgläubig dargestellten Pastor, außer Gefecht, um dann mit dem Kommissar und – in einiger Absurdität auch dessen Frau – zur Stätte seines Wirkens zu gehen, wo tatsächlich die Leiche des vor 15 Jahren getöteten Kindes liegt, aber auch das neu entführte und lebendig begrabene, aber noch lebende. Es kommt zum Showdown, der Täter wird offenbar erschossen und der vermeintlich sich im Irrtum befindliche Kommissar hatte doch Recht, während der sich für Recht und Gesetz einsetzende Beamte eigentlich eine Flasche war. In der Schlußszene ist der vorher wegen Körperverletzung und Entführung des Täters suspendierte Kommissar wieder im Dienst und quittiert die Anwesenheit seines “zögerlichen” Kollegen mit einem sehr maliziösen Lächeln: Recht hat offenbar, wer sich übers geltende Recht im Sinne “höherer Ziele” hinwegsetzt. – Recht hat vermeintlich, wer in der Pandemie alle möglichen Einschränkungen von Grundrechten durchsetzt, es gehe ja um die Rettung von Menschenleben. Recht hat wohl auch, wer in der Flüchtlingsfrage alle gesetzlichen Regelungen übergeht, um auch hier Menschenleben zu retten. So fleißig das Parlament auch Gesetze schreibt – letztlich zählen sie alle nicht wirklich gegenüber einem scheinbar moralisch höhenstehenden Recht, das dabei diffus, selektiv und ungreifbar bleibt.