Görlitz vier Monate später

Gute vier Monate wohne ich jetzt in Görlitz und habe einige Beobachtungen gemacht, die ich gern teilen möchte:

1. Der Görlitzer ist freundlich, ohne Arg und ausgesprochen kontaktfreudig. Beispiel: Spaziergang auf dem malerischen Neiße-Radweg. Ein Kuckuck schreit sich gerade die Kehle wund. Ein älterer Herr kommt uns entgegen und spricht uns an: “Haben Sie Geld in der Tasche?” Eine Anbettelei? Ein Überfall-Versuch am hellichten Tag? Mitnichten, der Mann wollte uns nur darauf hinweisen: wer Geld in der Tasche hat, wenn ein Kuckuck ruft, wird auch in Zukunft welches haben. Zum Glück hatten wir Geld in unseren Taschen. Wir dankten für den Hinweis und wünschten guten Tag und guten Weg.

   

2. Der Görlitzer, speziell in seiner weiblichen Variante, entwickelt häufig eine Physiognomie, die ich liebevoll als ‘Görlitzer Kugel’ bezeichne. dies liegt sicher auch an den hervorragenden Bäckern in der Stadt (besonders empfehlenswert: Bäckerei Geißler in der Bismarckstraße sowie in der Straßburgpassage und Bäckerei Dreißig am Postplatz) und den guten Fleischern.

   

   

3. Der Görlitzer liebt sein Auto und fährt gern und oft und leider auch ziemlich flott. Entsprechend lebhaft ist der Verkehr. Fußgänger sind dagegen außer in der Altstadt eine eher exotische Randerscheinung. Leider werden sie von vielen Autofahrern auch so behandelt: ignoriert, übersehen, abgedrängt. Fußgängerwege über die belebten Straßen sind – wie Ampeln – eher die Ausnahme mit ausgesprochen langen Wartezeiten. Oft fehlen auch die Zebrastreifen, sodass man auf das Wohlwollen der Autofahrer angewiesen ist, wenn man auf die andere Seite wechseln will. Radfahrer gar leben in Görlitz besonders gefährlich: es gibt nur wenige Radwege, und wenn, dann irrwitzig schmale. Aber entsprechend sieht man auch nur wenige Radfahrer. – Die gesamte Stadt ist  – noch – sehr auf flüssigen Autoverkehr ausgerichtet, aber das wird sich ändern müssen.

   

4. Es gibt kaum Graffitis, die Stadt ist sauber und gepflegt, und sie schmückt sich großzügig mit Blumen auf ihren öffentlichen Plätzen. Schade nur, dass immer noch so viele Wohnhäuser und ehemalige Industriegelände unrenoviert leerstehen und vor sich hin verfallen. Aber offenbar gibt es keinen hinreichenden Bedarf an Wohnraum und wirtschaftlichen Initiativen, um diese Häuser und Anwesen aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwecken.

   

   

   5. Wenn auch die Stadt insgesamt auf sich hält und gepflegt wirkt (kürzlich musste gar eine Werbefirma zwei große Werbeplakate von einem Baugerüst am Postplatz entfernen, weil sie den  Gesamteindruck des Platzes störten), ist das Verhältnis des Görlitzers zu seinem Müll oder Abfall ausgesprochen pragmatisch: Was weg muss, muss weg, und wenn es eben auf die Straße ist. Entsprechend entdecke ich jeden Tag zahlreiche neue “Fundstücke”, die aber dann doch nach einigen Tagen wieder verschwinden – wohl, weil die Müllabfuhr sie gnädigerweise irgendwann doch abholt. Das gilt leider nicht für die Hinterlassenschaften der vielen geliebten Hunde (gern auch Kampfhunde), die zu beseitigen sich die Görlitzer wohl zu fein sind. Es besteht eine Tretminenhäufigkeit, wie sie in anderen Städten schon seit Jahrzehnten nicht mehr anzutreffen ist. – Auch hat sich in Görlitz eingebürgert, dass die Hausmeister die gefüllten Mülltonnen morgens vor die Häuser auf die Bürgersteige stellen, bis die Müllabfuhr sie leert und sie dann abends wieder in die Hinterhöfe bzw. Müllkeller gestellt werden. An heißen Tagen, an denen der Biomüll zur Entsorgung ansteht, liegt dann über den betroffenen Straßen ein sehr intensiver süsslicher Duft der Verwesung…

   

   6. Der Görlitzer feiert gern. Die sächsischen Rundfunksender behandeln die Arbeitswoche daher lediglich als schnell hinter sich zu bringenden Zwischenstop zwischen diversen Feierterminen. – Leider konnte in diesem Jahr coronabedingt von den vielen Görlitzer Festen nur der “Tippelmarkt” in eingeschränkter Form stattfinden, ein Markt der Töpfer aus Sachsen und umliegenden Ländern.

   

   7. Der Görlitzer entwickelt sich und bildet sich gern weiter. Es gibt zahlreiche interessante kulturelle Initiativen unterschiedlicher Qualität und Zielrichtung.